Begabung alleine reicht nicht. Das ist auch den meisten Laien klar. Forschungsergebnisse aus der Psychologie und den kognitiven Neurowissenschaften zeigen allerdings auf, dass das Konzept von Begabung weit fragwürdiger ist, als sogar Fachleute dachten. Ulrike Stedtnitz hat diese Forschung in ihrem Buch Mythos Begabung leicht verständlich zusammengefasst
Man weiss selbst bei beeindruckenden Leistungen von Kindern nicht, ob diese später zu hoch leistenden Erwachsenen werden. Andererseits können auch Kinder mit schulischen Lernschwierigkeiten als Erwachsene hoch leistend sein. Leistungen im Erwachsenenalter lassen sich bei Kindern auf der Basis der aktuellen Forschung kaum voraussagen. Fazit: Förderprogramme, die sich an nur wenige „hoch begabte“ Kinder richten, lassen sich nicht rechtfertigen. Alle Kinder müssen gezielt ihren Stärken gemäss gefördert werden.
Auch die Aussagekraft von schulischen Leistungen in Bezug auf Erfolg im Erwachsenenalter ist begrenzt. Fazit: Eine Selektion für höhere Bildungsstätten aufgrund schulischer Leistungen oder von Prüfungsresultaten — wie teilweise für den Zugang zum Gymnasium — ist fragwürdig.
Mit einem IQ von 130 hoch begabt?
Ein Grenzwert von IQ 130 zur Bestimmung von „Hochbegabung“ beruht hauptsächlich auf statistischen Überlegungen und ist somit willkürlich. Die Bestimmung des IQ Wertes ist weit weniger präzise, als Laien und sogar Fachleute annehmen. Fazit: Die Einteilung in „hoch begabte“ und „nicht hochbegabte“ Kinder zwecks schulischer Frühförderung mag zwar aus praktischen Gründen legitim sein, doch ist ebenfalls willkürlich.
Sinnvolle Förderung
Gene, oder Umwelteinflüsse durch Förderung? Die aktuellen Neurowissenschaften sagen, dass der weitaus grösste Teil der Gehirnleistung kaum genetisch bestimmt ist und dass Faktoren wie körperliche Bewegung, tägliche geistige Stimulation und eine angemessene Gehirnnahrung eine wesentlich wichtigere Rolle spielen. Fazit: Sinnvolle schulische Förderung für alle, auf der Basis individueller Stärken, ist kritisch für die Wettbewerbsfähigkeit in der Zukunft.
Die Forschung von Carol Dweck, Stanford University: Kinder und Jugendliche, die davon überzeugt sind, dass sie sich für gute Leistungen anstrengen müssen, erreichen nachweislich mehr als solche, die lediglich als „hoch begabt“ etikettiert wurden. Fazit: Das Globaletikett „hoch begabt“ sollte vermieden werden. Ermutigung zur Anstrengung und Leistungsbereitschaft ist essentiell für alle Kinder.
Aus der aktuellen Expertiseforschung
Wie im Sport können in praktisch allen Bereichen mit der richtigen Art von hartnäckiger, möglichst täglicher Übung hervorragende Leistungen erbracht werden. Diese werden allen zugänglich, die bereit sind, sich intensiv und lange genug darum zu bemühen — in der Regel mindestens zehn Jahre lang. Ein nur leicht überdurchschnittlicher Intelligenzquotient oder ausgeprägte Stärken in einzelnen Bereichen reichen für hervorragende Leistungen aus. Fazit: Hochleistungen in allen Bereichen, vom Sport bis zur Mathematik, sind grundsätzlich vielen zugänglich. Viele Faktoren bestimmen hervorragende Leistungen, bis hin zum Zufallsfaktor.
Flexibilität, kreative Fähigkeiten und soziale Fähigkeiten sind absolute Basiskompetenzen im Umgang mit exponentieller Veränderung, wie sie die Zukunft bestimmt. Dies wird in den Schulen noch viel zu wenig berücksichtigt. Fazit: Beim Lernen und Arbeiten weniger Anleitung, dafür selbst denken und improvisieren lernen. Und immer wieder auch im Team.
Eine verwöhnende Erziehung ist zunehmend in vielen Elternhäusern ein grosses Problem. Ungenutztes Aktionspotenzial kann die Gewaltbereitschaft fördern. Fazit: Kinder und Jugendliche schulisch und ausserschulisch gezielt und intensiv fordern, geistig und körperlich.
Die aktuelle psychologische Forschung zeigt, dass Motivation und Optimismus Schlüsselfaktoren bei der Umsetzung von Fähigkeiten in Leistung sind. Fazit: Früher Drill und Lernprogramme für Vorschulkinder bringen wenig, viel wichtiger ist die Unterstützung von Interessen, Motivation und Anstrengungsbereitschaft. Dies übrigens auch am Arbeitsplatz!
Stedtnitz, Ulrike. Mythos Begabung. Vom Potenzial zum Erfolg. Bern: Verlag Hans Huber, Februar 2008